Was sind Autismus-Spektrum-Störungen?
Es gibt nicht den einen Autismus, denn jeder autistische Mensch ist anders. Historisch sind vor allem zwei Autoren mit der Entwicklung verbunden: Der amerikanische Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner (1896 – 1981) beschrieb 1944 nach eigenen Beobachtungen an einer Gruppe jüngerer Kinder das Störungsbild, das heute unter der Bezeichnung frühkindlicher Autismus oder Kanner-Syndrom bekannt ist. Zu seinen Beobachtungen gehörten vor allem das frühzeitige Auftreten der Symptome, die stark eingeschränkte Sprachentwicklung, motorische Beeinträchtigungen und eine häufig damit einhergehende Intelligenzminderung. Zu etwa der gleichen Zeit, jedoch unabhängig davon, kam Hans Asperger in Wien zu eigenen Forschungsergebnissen. Er beobachtete eine Gruppe älterer Kinder, bei der sich ab dem dritten bis zum fünften Lebensjahr Defizite im sozialen Miteinander und Sonderinteressen entwickelten, während die Sprachentwicklung im Wesentlichen altersgerecht verlief und sich eine normale Intelligenzverteilung zeigte. Das von ihm beschriebene Phänomen ist heute unter dem Begriff Asperger-Syndrom bekannt.
Die Kategorien von Kanner und Asperger, die im Wesentlichen wie von den Autoren beschrieben in die ICD-10 Eingang gefunden haben, erfassen jedoch nicht alle Betroffenen. Neben den genannten Bildern werden in der ICD-10 daher weitere Formen der Störung, beispielsweise der „atypische Autismus“ beschrieben.
Die unterschiedlichen Ausprägungen des Autismus und die Bandbreite der Symptome können von den Kategorien der ICD-10 dennoch nicht zufriedenstellend abgedeckt werden. Es spricht mehr für die Annahme eines „Spektrums“ als für die Annahme voneinander klar abgrenzbarer „Typen“ des Autismus. Daher hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr der Begriff Autismus-Spektrum-Störung (ASS) durchgesetzt, um die breite Variabilität besser zu erfassen, und nunmehr auch in DSM-V und ICD-11 Eingang gefunden (Röttgers & Rentmeister, 2020).
Erscheinungsbild/Symptomatik
Wesentlich für die ASS im Kindesalter sind aus elterlicher und therapeutischer Sicht vor allem Auffälligkeiten in den Bereichen Aufmerksamkeit, Informationsverarbeitung, emotionale Entwicklung, Interaktion und Lernen.
Autistischen Kindern fällt es schwer, ihre Aufmerksamkeit bewusst auf einen Reiz zu lenken. und diesen unter vielen zu selektieren. Sie sind mit der hohen parallelen Reizdarbietung in unserer Umgebung überfordert. Zudem ist es schwierig, gleichzeitig eingehende einzelne Informationen zu einem Gesamtbild zu verbinden. Daher ist vor allem die Verarbeitung komplexer Reize, die beispielsweise über unterschiedliche Sinnesmodalitäten eingegangen sind, gestört.
Die emotionale Entwicklung von Kindern mit ASS ist regelmäßig beeinträchtigt. So können einige Kinder aus dem autistischen Spektrum ihre eigenen Gefühle und die Gefühle anderer häufig nur sehr eingeschränkt erkennen, interpretieren und sozial angemessene Reaktionen zeigen. Sie haben Schwierigkeiten, sich in andere Menschen und deren Gefühlslage hineinzuversetzen, Aufmerksamkeit und Interessen mit anderen Menschen zu teilen und die Absichten und Handlungen ihrer Mitmenschen zu verstehen. Die Fähigkeit, sowohl die eigenen emotionalen Empfindungen, Gedanken und Absichten, als auch die emotionalen Empfindungen, Gedanken und Absichten anderer Personen zu verstehen, zu interpretieren sowie vorherzusagen, wird als Theory of Mind (ToM) bezeichnet. Beeinträchtigungen der ToM gelten daher als ein wichtiges neuropsychologisches Merkmal von Menschen mit einer ASS.
Autistische Menschen haben zudem Schwierigkeiten mit der Interpretation von sozialen Signalen und Situationen und der Rektion auf diese. Viele, vor allem implizite Signale, welche für eine angemessene und funktionierende soziale Interaktion und Kommunikation notwendig sind, werden von Menschen aus dem autistischen Spektrum übersehen oder nicht verstanden (z.B. nonverbale Kommunikationssignale wie z.B. Gestik, Mimik, Körperhalt, etc.). Dementsprechend kann die Interaktion mit anderen Menschen stark beeinträchtigt sein. Bei Personen mit einer ASS und einer schwerer ausgeprägten Symptomatik existiert häufig eine stark eingeschränkte Motivation, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten und auf den ersten Blick ein geringeres Bedürfnis nach Austausch und Nähe. Offen ist, ob dem vergebliche, erfolglose Versuche der Kommunikation vorangegangen sind und diese irgendwann aufgegeben wurden oder tatsächlich weniger Bedürfnisse vorliegen; wahrscheinlich sind beide Varianten denkbar. Dies führt in beiden Fällen dazu, dass autistischen Kindern das Lernen (in sozialen Situationen) schwerfällt. Die Möglichkeit, durch Nachahmung zu lernen, entfällt zum großen Teil, denn anders als nicht autistische Kinder beobachten sie ihre Mitmenschen nicht laufend spontan, um deren Verhalten zu imitieren und durch Wiederholung des Beobachteten zu lernen. Vor allem im sozialen Bereich ist der Erwerb neuer Fähigkeiten eingeschränkt, da viele stark beeinträchtigte Kinder mit ASS spontan kaum auf soziale Verstärker reagieren. Aus diesem Mangel an Anreizen und Lernmöglichkeiten verfallen autistische Kinder häufig in Stereotypien und isolierte Handlungen und scheinen sich darin zu verlieren. Aufgrund einer geringeren zentralen Kohärenz (Fähigkeit, Einzelheiten als zusammengehörig zu erkennen), achten Menschen aus dem autistischen Spektrum oftmals genau auf Details, erkennen dabei aber das große Ganze nicht (z.B. erkennen sie Menschen nicht an ihren Gesichtern insgesamt, sondern ausschließlich an einem spezifischen Merkmal im Gesicht). Auch die exekutiven Funktionen sind innerhalb der Verhaltensregulation (Hemmung, Umstellen, emotionale Kontrolle) und innerhalb der kognitiven Regulation (Initiative, Arbeitsgedächtnis, Planen & Strukturieren, Ordnen & Organisieren, Überprüfen) oft beeinträchtigt. Diese Beeinträchtigungen führen regelmäßig zu Einschränkungen hinsichtlich alltäglicher Handlungsabläufe (z.B. Zähne putzen oder Tisch decken), eingeschränkter Alltagskompetenzen und einer eingeschränkten Übertragungsfähigkeit (Generalisierung).
Kennzeichnend für die ASS ist nach ICD-10 die folgende Symptomtrias:
Qualitative Auffälligkeiten der gegenseitigen Interaktion | Qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation | Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster |
---|---|---|
|
|
|
In der ICD-11 werden die Symptombereiche „Kommunikation“ und „soziale Interaktion“ zusammengefasst, repetitive und stereotype Verhaltensweisen bleiben die zweite kennzeichnende Symptomgruppe. Bei Redaktionsschluss dieser Fassung der Plattform war die ICD-11 zwar schon veröffentlicht, aber in Deutschland noch nicht eingeführt; insbesondere rechtliche Entscheidungen werden daher derzeit noch an die ICD-10 geknüpft.
Entstehung
In Deutschland leben etwa 1 Million Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), wobei die Zahl der ASS-Diagnosen in den letzten Jahren deutlich angestiegen ist (Fombonne, 2009; Kim et al 2011). Die Störung ist nach übereinstimmenden Forschungsergebnissen durch verschiedene genetische Ursachen bedingt. Vier bis zehn Erbanlagen sind nach derzeitigen Erkenntnissen an der Entstehung autistischer Störungen beteiligt. Veränderungen an speziellen Genomregionen und Genen scheinen verantwortlich für eine veränderte Hirnentwicklung, die bereits vor der Geburt beginnt. Hier durch kommt es zu einer verringerten Verknüpfung der Nervenzellen und zu einer schlechteren Kommunikation der Zellen untereinander. Aufgrund dieser Veränderungen kommt es im Gehirn autistischer Menschen zu einer geringeren Synchronisation der einzelnen Hirnareale bei der Verarbeitung von Informationen. Auch der Umstand, dass eineiige Zwillinge in der Regel beide an Autismus erkranken, bestätigt die genetische Ursache des Autismus. Ebenso ist das Risiko, ein Kind mit einer autistischen Störung zu bekommen bei einem von Autismus betroffenen Elternteil stark erhöht. Wie genau sich jedoch die neurophysiologischen und neuropsychologischen Prozesse und Mechanismen von einer normalen Entwicklung unterscheiden, ist noch nicht eindeutig geklärt. Es ist von einem komplexen Zusammenwirken auszugehen, was die verschiedenen Ausprägungen innerhalb des Spektrums erklärt. Autismus ist also ein Resultat angeborener neurophysiologischer Veränderungen und keinesfalls auf „falsches“ Erziehungsverhalten der Eltern oder gar auf emotionale „Kühlschrankmütter“ zurückzuführen. Auch die verbreitete Annahme, dass toxische Substanzen in Impfstoffen zu der Störung führen, konnte nicht belegt werden. Bei autistischen Menschen scheinen bestimmte Regionen im Gehirn (vor allem die, die für die Sprachentwicklung und das Sozialverhalten wichtig sind) anders ausgebildet zu sein als bei neurotypisch entwickelten Menschen. Neueste Erkenntnisse zeigen, dass autistischen Menschen die so genannten Spiegelneurone zwar nicht fehlen, sie jedoch geringer aktiviert sind. Diese neurologische Struktur ruft sprichwörtlich spiegelbildlich die Gefühle, Körperzustände oder Bewegungen in uns wach, die wir bei anderen beobachten. Spiegelneurone machen uns deutlich, was unser Gegenüber fühlt und lassen uns die Empfindung mitfühlen oder helfen uns, Handlungen und Bewegungen nachzuahmen. Sie sind somit die neurobiologische Basis für unsere Empathiefähigkeit und somit die „Theory of Mind“, also das intuitive Wissen und das Verständnis dessen, was andere Menschen fühlen und die Grundlage für das Lernen durch Imitation (Röttgers & Rentmeister, 2020).
Verlauf und Prognose
Autismus ist nicht „heilbar“. Das Störungsbild wird in der frühen Kindheit sichtbar und bleibt lebenslang bestehen. Das Zusammenleben mit einem autistischen Kind stellt die Familien häufig vor große Herausforderungen, da die Kinder ein hohes Maß an Aufmerksamkeit erfordern und im Alltag wenig flexibel sind.
Durch lernpsychologisch fundierte Förderprogramme auf Basis der Autismusspezifischen Verhaltenstherapie (AVT; Bernard-Opitz, 2014) lassen sich jedoch deutliche Verbesserungen aller Störungsbereiche sowie der Selbständigkeit erreichen. In einem für autistische Kinder entsprechenden Rahmen können viele Entwicklungsfortschritte erzielt und weiteren Verzögerungen entgegengewirkt werden. Lern- und Fördermaßnahmen in unterschiedlichen Bereichen können die Hirnentwicklung nachhaltig beeinflussen und dem Kind zum Erwerb vieler Fähigkeiten verhelfen. Eine spezielle, auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten des Kindes ausgerichtete Therapie- und Fördersituation schafft die Grundlage für das Lernen und ermöglicht dem autistischen Kind, die Welt um sich herum besser zu begreifen und angemessen in ihr zu agieren. Eine besondere Bedeutung kommt hier dem frühen Beginn dieser autismusspezifischen Lernprogramme zu, um das Entwicklungspotential optimal nutzen zu können und den bestmöglichen Therapieerfolg zu erzielen (AWMF 2016, 2021). Sprachfähigkeiten (Lord &Paul, 1997) und das Intelligenzniveau (Eikeseth et al, 2002) sind ebenfalls wichtigste Faktoren für den Therapieerfolg.
Ohne Behandlung sieht die Prognose jedoch recht deprimierend aus. Lediglich ein geringer Prozentsatz der Betroffenen lebt und arbeitet als Erwachsene unabhängig. Bei einem Drittel der Fälle ist eine teilweise unabhängige Lebensweise möglich. Der überwiegende Anteil bleibt auch im Erwachsenenalter auf dauerhafte Unterstützung angewiesen (Röttgers & Rentmeister, 2020).
Quellen:
AWMF (2016): Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes- Jugend- und Erwachsenenalter. Teil 1: Diagnostik. Interdisziplinäre S3-Leitlinie der DGKJP und der DGPPN sowie der beteiligten Fachgesellschaften, Berufsverbände und Patientenorganisationen. AWMF Registernummer 028-018. Textstand der Leitlinie 23.2.2016. Verfügbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-018.html.
AWMF (2021): Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes- Jugend- und Erwachsenenalter. Teil 2: Therapie. Interdisziplinäre S3-Leitlinie der DGKJP und der DGPPN sowie der beteiligten Fachgesellschaften, Berufsverbände und Patientenorganisationen. AWMF Registernummer 028-047. Textstand der Leitlinie 2.5.2021. Verfügbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-047.html. Zugriff am 29.03.2022.
Bernard-Opitz, V. (2014): Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS). Ein Praxishandbuch für Therapeuten, Eltern und Lehrer. 3. überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Kohlhammer.
Eikeseth, S., Smith, T., Eldevik, S. (2002): Intensive behavioral treatment at school for 4-to 7-year old children with autism: A one-year comparison controlled study. Behavior Modification. 26. S. 49-68.
Freitag, C. M., Kitzerow, J., Medda, J., Soll, S. & Cholemkery, H. (2017): Autismus-Spektrum-Störungen. Göttingen: hogrefe.
Fombonne, E. (2009): Epidemiology of pervasive developmental disorders. Pediatr Res. 65(6):591-8. doi: 10.1203/PDR.0b013e31819e7203. PMID: 19218885.
Kim,Y.S., Leventhal, B. L. , Koh, Y., Fombonne, E., Laska, E., Lim, E., Cheon, K., Kim, S., Kim, Y., Lee, H., Song,D. & Grinker, R.R. (2011): Prevalence of Autism Spectrum Disorders in a Total Population Sample. American Journal of Psychiatry. 168:9. S. 904-912.
Lord, C. & Paul, R. (1997): Language and communication in autism. In: Cohen, D.L., Volkmar, R. (Eds.): Handbook of Autism and Pervasive Developmental Disorders. 2nd ed. Wiley: New York. S. 195-225.
Röttgers, H.R.R., Rentmeister, K. (2020): Alltagsorientiertes Lernen von Menschen mit Autismus. Reihe: Autismus konkret. Stuttgart: Kohlhammer.