Bedeutung einer fundierten Diagnose.
Bei einem ersten Verdacht auf das Vorliegen einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist eine spezifische Diagnostik empfehlenswert. Durch den umfangreichen und multidimensionalen Untersuchungsprozess können die ASS-Diagnose bestätigt oder ausgeschlossen, mögliche Differenzialdiagnosen und/oder evtl. Komorbiditäten (parallel bestehende, autismusunabhängige Gesundheitsprobleme) abgeklärt werden.
Für die Diagnostik sollten zwingend fachlich qualifizierte und mit der ASS vertraute Diagnostik- Einrichtungen aufgesucht werden, wie z.B. Kliniken, Ambulanzen und Praxen für Kinder- und Jugendpsychiatrie, spezialisierte Praxen für Psychotherapie und Sozialpädiatrische Zentren. Hausärzte und Hausärztinnen sind in der Regel nicht ausreichend mit dem Themenkomplex ASS und der Diagnostik vertraut, um eine gesicherte Diagnose stellen zu können. Durch eine gesicherte ASS Diagnose kann der weitere Weg für das Kind/ die Betroffenen geplant werden. Zudem ermöglicht sie, das Verhalten des Kindes/ der Betroffenen besser zu verstehen und die individuellen Beeinträchtigungen in den Bereichen soziale Interaktion, Kommunikation und stereotype und repetitive Verhaltensweisen einzuordnen. Somit können gezielt individuelle Anforderungen an eine Therapie abgeleitet und das Kind/ die Betroffenen bestmöglich in ihrer Entwicklung unterstützt werden. Darüber hinaus ist eine Diagnose die Voraussetzung für staatliche Unterstützungsleistungen, wie z.B. Therapie im Rahmen der Eingliederungshilfe, Pflegegeld, etc. Auch alternative Erklärungen für die von den Kindern/ den Betroffenen gezeigten Verhaltensweisen sollten im diagnostischen Prozess ausgeschlossen werden. Es gibt Störungsbilder wie z.B. ADHS, Hörschwierigkeiten, frühe Schizophrenie, Angst- und Zwangserkrankungen, die einer ASS in einigen Aspekten der Symptomatik ähnlich seien können. Eine frühzeitige ASS-Diagnose ist von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Kinder/ der Betroffenen. Die individuellen autismusspezifischen Symptome der tiefgreifenden Entwicklungsstörung manifestieren sich regelmäßig bereits im frühen Kindesalter.
Frühe autismusspezifische verhaltenstherapeutische Interventionen gelten laut den aktuell wissenschaftlichen Erkenntnissen zu den erfolgversprechendsten Therapieansätzen (Remschmidt & Kamp-Becker, 2009; Weinmann et al., 2009, AWMF, 2016, AWMF, 2021). Je früher Kinder/ Betroffene in ihrer Entwicklung gezielt unterstützt werden, desto effektiver können die kognitiven und neurobiologischen Veränderungen im Gehirn kompensiert und wesentliche Lernvoraussetzungen aufgebaut werden. So kann sich der frühzeitige Einsatz von wissenschaftlich fundierten Interventionen wie der Autismusspezifischen Verhaltenstherapie (AVT) und verwandten, auf lernpsychologischen Prinzipien beruhenden Verfahren positiv auf die Entwicklung und die Selbstständigkeit der Kinder/ der Betroffenen auswirken. Eine frühzeitige Diagnose kann somit die Lebensqualität und die gesellschaftliche Teilhabe maßgeblich verbessern und ein möglichst selbstbestimmtes und selbstständiges Leben ermöglichen.
Damit Kinder/ Betroffene aufgrund ihrer Diagnose nicht stigmatisiert werden, benötigt es eine umfassende Aufklärung aller Schnittstelle der Lebenswelt von Kindern/ Betroffenen. Nur, wenn ASS von allen mit dem Kind zusammenlebenden und arbeitenden Personen (Kita, Schule, etc.) verstanden wird, kann ein fairer und angemessener Umgang stattfinden. Werden die Wahrnehmungsbesonderheiten von Menschen mit ASS fehlinterpretiert und ignoriert bzw. unangemessen beantwortet, kann dies belastende Auswirkungen für die Kinder/ Betroffenen haben.
Schwierigkeiten bei der Früherkennung
Die Früherkennung einer ASS setzt eine umfängliche fachliche Kenntnis über das Störungsbild voraus. Immer wieder bleiben Kinder mit einer ASS im frühen Kindesalter unerkannt. Dies gilt besonders für Mädchen und Frauen. Hier spielen die sich nicht immer mit dem männlichen Geschlecht deckende Symptomatik, aber auch die wegen der Geschlechtsverteilung fehlende Aufmerksamkeit eine Rolle. Nicht selten erfolgt die Diagnose erst Jahre nach den ersten Sorgen und Beobachtungen der Eltern.
Für die Altersgruppe von 0 bis 5 Jahren werden die folgenden maßgeblichen (Früh-)Symptome in den NICE-Leitlinien (2011) beschrieben (vgl. Freitag et al. 2017, AWMF, 2016):
- Kinder zeigen regelmäßig kein prodeklaratives Zeigen,
- das Verfolgen des Blicks bleibt aus und
- es kann kein „Als-ob-Spiel“ festgestellt werden.
Weiter ergeben sich aus der Literatur folgende diagnostischen Hinweise:
<12 Monate
- Aktuell liegen noch keine ausreichend empirisch abgesicherten, auch im Versorgungsalltag umsetzbaren Merkmale für das Säuglingsalter vor.
ab 12 Monaten
- Keine Zeigegeste, um Interesse zu teilen.
- Keine Winke-Geste zum Abschied.
- Fehlende Reaktion auf Gerufen-werden mit dem Namen.
- Fehlende Imitation.
- Mangelnder Blickkontakt.
- Ungewöhnliche Exploration von Objekten.
- Kein Folgen der Zeigegeste.
- Seltenes soziales Lächeln.
- Verlangsamte Flexibilität in der visuellen Anpassung.
- Vorlieben für geometrische Figuren.
ab 18 Monaten
- Keine Zeigegeste, um Interesse zu teilen.
- Mangelnder Blickkontakt.
- Mangelndes Verfolgen des Blickes.
- Fehlendes Bringen, um etwas zu zeigen.
- Fehlendes „So-tun-als-ob-Spiel“.
- Keine mimische Reaktion bzw. kein Blickkontakt bei Not von anderen Menschen.
ab 24 Monaten
- Keine Zeigegeste, um Interesse zu teilen.
- Mangelnder Blickkontakt.
- Fehlendes Bringen, um etwas zu zeigen.
- Fehlendes „So-tun-als-ob-Spiel“.
Liegen mehrere eindeutige autismusspezifische Symptomhinweise vor, kann das Kind für eine Diagnostik im Alter von ca. 18-20 Monaten an eine entsprechende fachlich qualifizierte Diagnostikstelle verwiesen werden (Freitag et al. 2017, AWMF, 2016).
Weitere Informationen zur Diagnostik und der Früherkennung können Sie den interdisziplinären S3 Leitlinien der DGKJP und der DGPPN sowie der beteiligten Fachgesellschaften, Berufsverbände und Patientenorganisationen unter folgendem Link entnehmen: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-047.html
Diagnostik-Anlaufstellen
Wie bereits oben beschrieben, handelt es sich bei der Autismusdiagnostik um einen hochkomplexen Prozess, der von erfahrenen und mit dem Störungsbild vertrautem Fachpersonal durchgeführt werden sollte. Wissenschaftlich gesicherte Verfahren und Untersuchungsinstrumente, wie das ADI-R (Diagnostisches Interview für Autismus – Revidiert) und die ADOS-2 (Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Störungen -2) sollten im Diagnoseprozess angewendet werden. (Diagnoseverfahren) Weitere Infos zu Anlauf- und Kontaktstellen finden sie hier.
Quellen:
AWMF (2016): Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes- Jugend- und Erwachsenenalter. Teil 1: Diagnostik. Interdisziplinäre S3-Leitlinie der DGKJP und der DGPPN sowie der beteiligten Fachgesellschaften, Berufsverbände und Patientenorganisationen. AWMF Registernummer 028-018. Verfügbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-018.html
AWMF (2021): Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes- Jugend- und Erwachsenenalter. Teil 2: Therapie. Interdisziplinäre S3-Leitlinie der DGKJP und der DGPPN sowie der beteiligten Fachgesellschaften, Berufsverbände und Patientenorganisationen. AWMF Registernummer 028-047. Verfügbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-047.html. Zugriff am 29.03.2022.
Freitag, C. M., Kitzerow, J., Medda, J., Soll, S. & Cholemkery, H. (2017): Autismus-Spektrum-Störungen. Göttingen: hogrefe.
Remschmidt, H., Kamp-Becker, I. (2009): Das Asperger-Syndrom – eine Autismus-Spektrum-Störung. Deutsches Ärzteblatt cme Kompakti, 2, 36a-36i. Verfügbar unter: https://www.aerzteblatt.de/archiv/64645/Das-Asperger-Syndrom-eine-%20Autismus-Spektrum-Stoerung. Zugriff am 16.02.2022.
Weinmann, S., Schwarzbach, C., Begemann, M., Roll, S., Vauth, C., Willich, S. N. & Greiner, W. (2009). Verhaltens- und fertigkeitenbasierte Frühintervention bei Kindern mit Autismus. DIMI: HTA-Report Nr. 89. Verfügbar unter: https://portal.dimdi.de/de/hta/hta_berichte/hta248_bericht_de.pdf. Zugriff am: 16.02.22.